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Die Sahara als Grenze Europas?

EU-Migrationspolitik

17. Oktober 2008
Von Michael Werz

Von Michael Werz, Washington

Im südspanischen El Ejido sind die Erinnerungen an den tödlichen Angriff eines geistig verwirrten Marokkaners auf eine spanische Frau noch allgegenwärtig. Damals folgten dreitägige Ausschreitungen gegen nordafrikanische Einwanderer in der ersten Februarwoche des Jahres 2000. „Mauren raus“ war der einigende Schlachtruf des Mobs, mit Eisenstangen bewaffnete Bauern und aufgebrachte Jugendliche trieben ihre Opfer durch die Straßen des Ortes bis hinein in die endlosen Gemüsefelder vor der Kleinstadt. Straßen wurden blockiert, Barrikaden brannten, mehr als 40 Verletzte waren zu beklagen. Im gleichen Jahr geriet die Europäische Union in Unruhe. Es fanden Sondersitzungen statt, anti-rassistische Deklarationen wurden abgegeben und schließlich Sanktionen beschlossen — allerdings nicht gegen Spanien sondern gegen Österreich, wo Jörg Haider und die rechte FPÖ in die Regierung eingetreten waren. Die Geschehnisse in der Almería-Region verblichen angesichts der Aufgeregtheiten zwischen Brüssel und Wien. Der alles bestimmende Blick nach innen ist symptomatisch für Europa, doch die Zukunft der Union wird sich nicht in Österreich oder Deutschland entscheiden, sondern an den Südgrenzen.

Unsichtbare Arbeitsmigranten

In Almería, vor über tausend Jahren von Emir Abd-ar-Rahman III gegründet und mit der zweitgrößten Festungsanlage des Empires ausgestattet, wird sinnlich erfahrbar, wie lange Südspanien und Nordafrika bereits miteinander verwachsen sind. So weit das Auge reicht bedecken Gewächshäuser den trockenen Boden, aus denen Westeuropa zu jeder Jahreszeit mit Gemüse versorgt wird. Die vielen Arbeitsmigranten sind unsichtbar in den mit Planen bezogenen Treibhäusern. Die Plastikfolie wird nach Meterlängen verkauft und von denen aufgespannt, die Arbeiter, die eigentlich nicht hier sein sollen, werden unsichtbar gemacht. Almería heißt im arabischen nicht umsonst Spiegel, die Region reflektiert mit ihrem schnellen Aufstieg aus der Armut die europäische Vergangenheit und mit ihrer handgreiflichen Nähe zur Straße von Gibraltar eine ungewisse Zukunft.

Spanien hat sich dramatisch verändert, innerhalb einer Generation wurde es vom Aus- zum Einwandererland und hat inzwischen mit über elf Prozent Migranten den höchsten Anteil aller EU-Staaten. Im Negativen wie im Positiven wird in Spanien auch die Zukunft der Union mit verhandelt. Xenophobe Ausschreitungen werden durch ungeheure Prosperität konterkariert. Innerhalb von zwei Jahrzehnten ist die ehemals rückständige Region um Almería von einem europäischen Afrika in das Wohlstandsmittelfeld Spaniens aufgestiegen. Angesichts des starken spanischen Wirtschaftswachstums insgesamt eine unglaubliche Leistung, die ohne den Import von Arbeitskraft aus Marokko unmöglich gewesen wäre. Wenn Miguel Uribe, Präsident des Arbeitgeberverbandes der Region Almería, behauptet es gebe keine Vorbehalte gegen Einwanderer und alle würden, unabhängig von ihrem legalen Status, gleich bezahlt, mag das nicht unbedingt der Wirklichkeit entsprechen. Doch sind die Arbeitgeber in einer gesetzlichen und politischen Zwickmühle, wie so oft wird die unklare und oft inkonsistente Gesetzgebung und Behördenpraxis auf dem Rücken der Beteiligten ausgetragen. Jeder, der hier ökonomisch aktiv ist, muss nach pragmatischen Lösungen suchen, weil das Gesetz oft keine Lücken lässt. Eine Landebesitzerin schildert, wie sie half den illegal eingewanderten Verwandten einer ihrer Arbeiter zu suchen, der in den Bergen von Almería gestrandet war. Solch praktische Solidarität kann nach geltendem Gesetz mit Gefängnis bestraft werden. Auch in diesem Sinne ist Südspanien paradigmatisch: für die bürokratische Illusion, Migration ließe sich mittels legalistischer Bestimmungen verwalten oder gar dämmen.

Europa in Sichtweite

Die andere Seite der gleichen Medaille liegt nur 14 Kilometer entfernt, das Wasser der Strasse von Gibraltar verbindet die beiden Kontinente auf kürzestem Wege. Marokko zahlt den Preis für die spanische Prosperität, es verliert qualifizierte wie unqualifizierte Arbeitskräfte und ist zu eine Fixpunkt internationaler Migrationsbewegungen geworden: Transitland für Wandernde aus Nigeria, Senegal, Gambia, Liberia, Sudan und Kamerun. In den vergangenen beiden Jahren treffen immer mehr Migranten mit dem Flugzeug in Marokko oder in westafrikanischen Ländern ein; sie kommen aus Indien, Pakistan und Bangladesch und wollen ihr Glück in Europa versuchen.

Ihre Geschichten sind atemberaubend und lehren das Fürchten. Zwei junge Männer aus der Kriegsregion im Ostkongo kamen auf dem Landweg nach Tanger, verloren Freunde in der Sahara und leben mit anderen Flüchtlingen illegal in einem Apartment in Tanger, das sie aus Angst vor der Polizei nur freitags verlassen, um an den Moscheen zu betteln. Sie sind seit fünf Jahren in der marokkanischen Metropole, Europa kann man von hier aus sehen, bei Tag und bei Nacht. Eine Rückkehr kommt nicht infrage, der eine weiß nicht, wo sich seine Familie nach den Kriegswirren befindet, der andere ruft aus Scham nicht zuhause an. Er war ausgezogen um in Europa Geld zu verdienen und hat versagt. Solche Schicksale nehmen sich aus wie die Umkehrung von Joseph Conrads Herz der Finsternis, sie haben Zentralafrika verlassen mit dem Paradies vor Augen und sind seit einem halben Jahrzehnt in der Hölle zwischen den Welten gefesselt.

Ceuta: Aussicht auf die Aussichtslosigkeit

Im spanischen Flüchtlingslager von Ceuta wird die verworrene Situation politisch und topographisch auf die Spitze getrieben. Die dreißig Quadratkilometer große spanische Enklave an der nordafrikanischen Küste, ein bizarres Überbleibsel der europäischen Kolonialgeschichte, beherbergt jene, die es über die Grenze aber nicht bis auf den europäischen Kontinent geschafft haben. In dieser gesellschaftlichen Grauzone werden unter verhältnismäßig akzeptablen Bedingungen. Valeriano Hoyas leitet die Institution, in der ein kosmopolitisches Gemeinwesen wider Willen entstanden ist; eine Gemeinschaft, die trotz des herrlichen Ausblicks auf das Mittelmeer und den europäischen Kontinent nur die Aussichtslosigkeit der individuellen Situation verbindet. Der Name der Einrichtung ist so verwickelt wie die politischen Umstände, die sie hervorbrachten: „Zentrum für den begrenzten zeitlichen Aufenthalt von Einwanderern“. Wer die Grenzanlagen überwunden oder überlistet hat, landet hier und lernt Spanisch um später deportiert zu werden.

Die Südgrenze der Europäischen Union ist nur wenige Schritte entfernt zu besichtigen. Sie hat den gleichen Charme wie viele Befestigungsanlagen entlang des Rio Grande zwischen Texas und Mexiko. Allerdings haben die US-Behörden keine willigen Helfer südlich der Grenze, sie sind gezwungen, die schwierigen Fragen von Einwanderung, Grenzkontrolle und Rechtsstaatsprinzipien selbst zu lösen. Europa macht das anders. Es gibt kaum noch illegale Übertritte seit die Marokkaner die andere Seite sichern, berichtet Kapitän Lopez vom spanischen Grenzschutz und ist unendlich froh, dass seinen Leuten erspart bleibt mit brachialen Mitteln gegen Migranten vorzugehen. Die Europäische Union hat Grenzgewalt, Kontrolle und fragliche Rechtspraxen konsequent nach Marokko ausgelagert.

EU-Außengrenze Marokko

Mohamed Neshnash, Vizepräsident der marokkanischen Menschenrechtsorganisation MOHR und altgedienter politischer Aktivist der Linken sieht in der Entäußerung europäischer Grenzen nicht nur eine Bedrohung der sich entwickelnden demokratischen Freiheiten seiner eigenen Gesellschaft. Er hat die achtunddreißigjährige Regentschaft Hassan II. erlebt und erlitten; nun sprechen die verhältnismäßig freien Parlamentswahlen von 2002 und 2007 die Sprache eines sich verändernden Marokko. Auf die Frage was zu tun sei gibt er die provokanteste Antwort, die denkbar ist: Europa solle realisieren, wo seine Außengrenzen liegen und eigene Soldaten in der Sahara stationieren, wenn man Migranten partout nicht akzeptieren wolle. Damit ist das Kernproblem der EU Politik angesprochen. Wie schon 2000, als Jörg Haider eine größere Bestürzung hervorrief als die massiven Ausschreitungen in Südspanien, drängen sich schwer zu beantwortende Fragen auf. Die meisten Staaten der Europäischen Union haben versagt, wenn es darum ging, den alten Einwanderern der sechziger und siebziger Jahre Angebote zu machen, Deutsche, Dänen und Franzosen zu werden. Ob jemand dazugehört, entscheiden noch immer nicht die Betroffenen, sondern Nachbarn und Verwaltung. Im internationalen Wettbewerb um talentierte Fachkräfte fällt Kontinentaleuropa immer weiter hinter die USA, Kanada, Australien, Neuseeland und England zurück. Und die gegenwärtige politische Praxis, sich vor einer sehr viel grundsätzlicheren Einwanderungsdiskussion wegzuducken und zugleich die europäische Grenzsicherung von den marokkanischen und algerischen Sicherheitskräften ausfechten zu lassen, spricht eine eigene Sprache.

In wenigen Jahren wird sich rächen, dass der so genannte Barcelona-Prozess der europäischen Politik gegenüber den Anrainerstaaten des Mittelmeers durch den de facto Ausschluss der Türkei immens geschwächt wurde, weil Ressentiment wichtiger war als aufgeklärte innen- und außenpolitische Interessen. Doch dort, wie in Marokko und Südspanien, ist das Problem nicht gelöst sondern nur verdrängt. Die Union muss sich entscheiden, was für ein Gemeinwesen sie im 21. Jahrhundert repräsentieren will, und diese Bestimmung wird nicht innerhalb der eigenen Grenzen erfolgen, sondern in Nordafrika und im östlichen Mittelmeer.


Michael Werz ist Transatlantic Fellow des German Marshall Fund of the United States und Visiting Researcher am Institute for the International Study of Migration an der Universität von Georgetown in Washington DC